Themenfeld 1: Recht und Politik (2016-2018)

Politische Kulturen lassen sich nicht auf einen Mechanismus der Entscheidungsfindung, die Selektion ihres Führungspersonals und bestimmte institutionelle Settings reduzieren: Es bedarf der Analyse ihrer symbolischen Formen und rituellen Praktiken. Im Themenfeld ‚Recht und Politik‘ treten insofern Rechts- und Verfassungskulturen in Wechselwirkung mit einer politischen Sphäre, die es nicht bloß unter dem Blickwinkel der reinen Systemrationalität zu betrachten gilt. Werden aber sowohl Recht als auch Politik komparativ und mit kulturanalytischen Mitteln betrachtet, so zeigen sich viele hochspezifische Wege, ihre Relation auszutarieren. Wenn politische Kulturen sich offensichtlich darin unterscheiden, welche Fragen sie überhaupt einer politischen Lösung zuführen wollen, wobei gerade bei grundrechtssensiblen Problemen Modelle einer Parlamentssouveränität (wie in England und lange Zeit in Frankreich) mit solchen eines absoluten Primats der Verfassungsgerichtsbarkeit (wie in Deutschland) konkurrieren, erscheint eine genaue Zurechnung zu den Sphären nicht immer möglich; denn auch Verfassungsorgane wie das Bundesverfassungsgericht oder der US Supreme Court beschränken sich häufig nicht auf die bloße Rechtsanwendung, sondern schaffen mit ihrer Rechtsprechung zugleich neues Recht. Zentral für die Grenzziehung zwischen rechtlicher und politischer Sphäre ist auch die Frage, inwieweit sich wandelnde gesellschaftliche Verhältnisse im Wege einer Verfassungsinterpretation berücksichtigen lassen oder es hierzu einer Verfassungsänderung bedürfte.
Zugleich ließe sich komparativ untersuchen, inwiefern es eine universelle Entwicklung darstellt, politische Forderungen in die Sprache des Rechts zu kleiden. Martti Koskenniemi hat etwa Unbehagen an der Inflation der Menschen- und Grundrechtssemantik artikuliert, durch die häufig umstrittenen normativen Positionen eine Art Letztbegründung untergeschoben werden solle, um sie dem politischen Diskurs zu entziehen. Umgekehrt kann Recht auch (gezielt) politischen Druck entfalten, wie dies im europäischen Mehrebenensystem der Fall ist, wenn mit der Vereinheitlichung des Internationalen Privat- und Prozessrechts vermeintlich neutrale Verweisungs- und Verfahrensregelungen getroffen werden, die jedoch Mitgliedstaaten politisch unter Zugzwang setzen, ihre Rechtsordnungen international wettbewerbsfähig zu halten (regulatory competition).
Darüber hinaus aber tritt die Idee der Verfassung als normatives Projekt der Modernisierung auch in den Gesellschaften auf den Plan, die in den Sog des Modernitätsdenkens geraten sind. Innerhalb dieser Verfassungsvorhaben und ihrer Durchsetzung gibt es eine außerordentliche Spannweite: von der oktroyierten Verfassung der Siegermächte bis zum Befreiungskonstitutionalismus der ehemaligen Kolonialländer, der Verfassung der ordinierten Unfreiheiten und des konstitutionellen Fundamentalismus. Schließlich haben Verfassungsprojekte in der Folge des arabischen Frühlings eine außerordentliche Rolle gespielt. Es stellt sich die Frage, wie angesichts des offenkundigen rechtskulturellen Pluralismus der Verfassungsideen, -modelle und -praxen die UN-Charta als globale Verfassung der Weltgesellschaft gedacht werden kann, d.h. nach der Reichweite des Konstitutionalismus unter den Bedingungen von Globalisierung und Lokalisierung der gesellschaftlichen Orte und Gemeinschaften. Dass supranationale und globale Verfassungsmodelle hier häufig mit nationalen und lokalen Souveränitätsansprüchen und Verfassungstraditionen kollidieren, kommt nicht zuletzt beim Schutz von Menschenrechten und, jenseits aller universellen Lippenbekenntnisse, der Konkretisierung von Grundrechten zum Ausdruck. Im regionalen Kontext hat sich eine lebhafte Auseinandersetzung über die Aushöhlung demokratischer Entscheidungsprozesse und nationaler Selbstbestimmung über politische Optionen durch eine dynamische Auslegung menschenrechtlicher Verträge entfaltet, welche einen offenen politischen Diskurs und demokratische Entscheidungen in enge Bahnen zwingt oder gar abzuschneiden scheint. Vor allem in Staaten, die sich durch legitimations-stiftende demokratische Entscheidungsprozesse definieren, wird die unvorgesehene oder gar unvorhersehbare Entwicklung neuer menschenrechtlicher Standards oft als Beschränkung politischer Wahlfreiheit oder als Einschnitt in historisch verwurzelte Rechtskulturen verstanden.
Die Legitimationsfrage verweist dabei generell auf die Bindungskraft von Verfassungen, die sich nicht zuletzt auch aus politisch inspirierten und induzierten Symbolen, Narrativen und Ritualen speist, während andererseits emotional aufgeladene politische Kampagnen auch die Geltung des Rechts in Frage stellen können. Gerade wenn die ‚Verfassung‘ wertentbunden und voraussetzungslos operieren soll, bedarf sie umso höherer symbolischer Anstrengungen, ihre Geltung in Kraft zu setzen. Die Wirksamkeit der Verfassung bedarf eines gemeinsamen Verfassungsglaubens oder eines Verfassungsbewusstseins, wobei die affektive Relation von Gemeinschaften zu ihrer Konstitution im nationalen Rahmen stark variiert: Vom religiös anmutenden Verfassungskult der US-Amerikaner über den (manchmal auch akademisch beschworenen) Verfassungspatriotismus der Bundesrepublik bis hin zur französischen „Lawine von Verfassungen“ seit der Revolution, die lange Zeit weder den politischen Prozess konstitutionalisierend prägten noch eine affektive Wirkung mit sich brachten. Der französische Fall steht dabei stellvertretend für die emotionale Kopplung eines Kollektivs an Ideen der Nation, die nicht selten legitime Rechtsansprüche der eigenen Bevölkerung oder, wie während der Kolonialherrschaft, die „Rechte der Anderen“ (Seyla Benhabib) negierten. Unter dem Aspekt der Rechtsbindung lässt sich schließlich eine weitere Dimension der politischen Organisationsform von Recht beleuchten: Seitdem mit dem Übergang von segmentären zu stratifizierten Gesellschaften politische Herrschaft soziale Normen in Recht transformiert hat, gilt der Staat als eine zentrale organisatorische Einheit von Rechtschöpfung, Rechtsfindung und Rechtsdurchsetzung und damit, zumindest in weiten Teilen der globalen Gesellschaft, als eine konstitutive Voraussetzung modernen Rechts – auch wenn die am Bonner Kolleg getroffene Entscheidung für einen mehrdimensionalen, kulturwissenschaftlich aufgeklärten Rechtsbegriff den Blick schärft für die organisatorische Vielfalt des Rechts, die sich in historischer wie kulturvergleichender Perspektive ergibt. Eine komparativ ausgerichtete Kultursoziologie des Staates verspricht sowohl Erkenntnisse zu regionalspezifischen Gewichtungen von Recht und Politik als auch zur Frage der Rechtsbindung und -geltung. Das gilt umso mehr, als der Staat als Organisationsform des Politischen nach dem Muster europäischer Nationalstaaten – als souveräne Grundlage des Rechtssystems und als Produzent von Rechtslegitimation – unter vielfältigen Druck geraten ist. Während die Liste der failing states und der konzentrischen Rechtsräume ein neues Faktum im Verhältnis zwischen Politik, Recht und Kultur konstituiert, das einer eingehenden Untersuchung bedarf, zeigen sich die Grenzen des klassischen Nationalstaats ebenfalls im Prozess der ökonomischen Globalisierung und der Herausbildung supra- und transnationaler politischer Räume, die ohne Staatsbildung Recht schaffen. Auf all diesen Ebenen stellt sich die Frage, welche Legitimation und Rechtsbindung schaffende Organisationsform als funktionales Äquivalent für den Staat auftreten kann, um dem Recht einen verbindlichen sozialen Rahmen zu garantieren.